1. April 2020
Der digitale Veronese und die Migration der Aura
Im Blog-Beitrag vom 26. März haben wir über die Aura des Originals sinniert, welche gerade in Zeiten der geschlossenen Ausstellungen nur schwierig via Bildschirme zu transportieren sei. Heute gehen wir auf einen anderen Aspekt ein, denn digitale Technologien beschränken sich nicht nur auf die Darstellung an einem Bildschirm, sie erlauben auch originalgetreue Nachbildungen, wie das folgende Beispiel zeigt.
Paolo Veronese schuf das berühmte Gemälde Die Hochzeit zu Kanaan (1563) für das Refektorium des Klosters San Giorgio Maggiore in Venedig. Das grossformatige Werk (6.5 x 10 m) kam als Teil von Napoleons Beutekunst 1797 in den Louvre, wo es sich noch heute befindet. 2006 beauftragte die Fondazione Giorgio Cini die Firma Factum Arte, ein Faksimile in Originalgrösse herzustellen. Dazu verwendete sie neueste, digitale Technik, um das grosse Gemälde möglichst originalgetreu zu kopieren.
Das Faksimile wurde am ursprünglichen Standort installiert, wo es im Licht von zwei grossen Seitenfenstern und im Zusammenspiel von realer und gemalter Architektur eine besondere Wirkung auf die Betrachter entfaltet, die diese in ihren Bann zieht. Bruno Latour und Adam Lowe [1] beschreiben den Effekt auf die Besucher/innen des Refektoriums als eine kognitive Dissonanz. Zwar sei diesen bewusst, dass sie vor einer Reproduktion stünden, gleichzeitig erschiene ihnen aber die Reproduktion in ihrem ursprünglichen Kontext originaler als das Gemälde im Louvre. Es habe den Anschein, so die Autoren, dass das Faksimile für die Betrachter/innen in San Giorgio gleichwertig mit dem abwesenden Original sei, dass sich die Aura vom Objekt gelöst habe und auf die Reproduktion übergegangen sei. Deshalb sprechen Latour und Lowe von einer Migration der Aura. Siehe Bild unten.
Die Qualität der Kopie spielt dabei eine wesentliche Rolle: Wenn der materielle Unterschied zwischen Original und Kopie verschwindet, was beim Faksimile der Hochzeit zu Kanaan der Fall ist, handelt es sich nach Maria Reicher um eine perfekte Kopie, die sich wie folgt beschreiben lässt: «Etwas ist eine perfekte Kopie eines Kunstwerks genau dann, wenn es unter idealen Bedingungen der ästhetischen Rezeption nicht vom Original unterscheidbar ist. Das führe zu der Frage, ob einem Original notwendigerweise ein höherer ästhetischer Wert beizumessen sei als einer Kopie.» [2]
Sogenannte Museumsfaksimiles, d.h. originalgetreue Nachbildungen in höchster Qualität, sollten also nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Diese können ihren Sinn erfüllen, indem sie als Ersatz für Originale dienen, die aufgrund ihrer Fragilität, nicht mehr oder nur selten ausgestellt werden können. Oder ganz einfach, um das Original zu schützen, der Nachwelt zu erhalten und der Forschung uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Faksimiles dürften zukünftig in Ausstellungen vermehrt zum Einsatz kommen, da es für Museen zunehmend unerschwinglich wird, teure Werke auszuleihen, da die Versicherungs- und Transport-Kosten ins Unermessliche steigen. Damit stellt sich die philosophisch, ethische Frage zur Aura: Sollten wir erwarten können, dass die Faksimiles als solche gekennzeichnet werden oder sollten wir im Glauben gelassen werden, dass es sich um das Original handelt?
[1] Bruno Latour und Adam Lowe, The Migration of the Aura, or How to Explore the Original
[2] Maria E. Reicher, Vom wahren Wert des Echten und des Falschen
Paolo Veronese, Die Hochzeit zu Kanaan, Faksimile am ursprünglichen Standort in Venedig